Es ist leider wieder soweit. Die israelische Air Force fliegt massive Bombenangriffe auf den Gaza Streifen mit Kampfhubschraubern, Drohnen und Kampfjets amerikanischen Formats. Hält man sich bloss an die westliche Berichterstattung, dann reagiert Israel lediglich auf die Raketenangriffe die aus dem Gaza Streifen kamen und israelische Dörfer und Städte und bedroht haben. Selbst ein Kreuzfahrtschiff der AIDA bekam den Schrecken eines Krieges zu spüren, als offensichtlich Schrapnelteile von israelischen Abfangraketen auf das Deck des Kreuzfahrtschiffes herunter regneten.
Bezeichnenderweise heisst diese neueste Bombardierung des Gaza Streifens "Operation Protective Egde", oder Operation Schutzrand, was die Übersetzung des hebräischen Originals "Tzuk Eytan" sein soll.
Aber hier fängt die Propaganda bereits an. Die übersetzte Version des Operationsnamens ist genau für die internationalen Medien gedacht, die ihren Job bisher aus israelischer Sicht sehr gut ausführen: nämlich die Verbreitung der Propaganda. Operation "Protective Edge" klingt defensiv, es gibt den Anschein als ob sich Israel lediglich wehren würde.
Der hebräische Originalname dieser Operation "Tzuk Eytan" ist aber alles andere als defensiv, ganz im Gegenteil. Tzuk Eytan bedeutet korrekt übersetzt nämlich "solider Fels" oder "mächtige Klippe", was der Operation und dem Grund der sinnlosen Bombardierung eine ganz andere Richtung gibt.
Selbstverständlich ist auch auf der anderen Seite der Beschuss mit Raketen aus dem Gaza-Streifen auf israelische zivile Ziele zu verurteilen. Wobei einige Dinge ganz klar in die richtige Perspektive gerückt werden müssen um die Tragweite dieses erneuten Krieges besser verstehen zu können:
1. Der Gaza Streifen - und somit die über 1.7 Millionen Menschen darin (manche sprechen sogar von zwei Millionen Menschen) - ist von Israel hermetisch abgeriegelt. Offiziell kommt nicht eine Fliege in oder aus dem Gaza-Streifen ohne die Bewilligung von Israel. Obwohl der Gaza Streifen direkt am Meer gelegen ist, haben die Fischer riesige Probleme ihre Fänge einzuholen weil ihnen auch auf dem Wasser der Weg von israelischen Patrouillenbooten versperrt wird. Ob zu Wasser, in der Luft oder auf dem Boden, die Menschen sind wie in einem Ghetto eingesperrt und müssen alles, wirklich alles, über sich ergehen lassen. Die direkte israelische Besatzung, sprich die physische Präsenz von jüdischen Siedlern und israelischen Soldaten im Gaza Streifen, wurde zwar 2005 für beendet erklärt, aber das anschliessend errichtete Ghetto wurde von der Weltöffentlichkeit bisher stillschweigend angenommen. Um dieses Ghetto noch genauer zu verdeutlichen: die Herrschaft der Israelis über die Menschen in Gaza ging sogar soweit, dass die israelische Regierung im Jahr 2008 eine Studie (die Red-Lines Dokumente) in Auftrag gab und nach dessen Ergebnissen auch die Einfuhr von Waren und Lebensmittel in den Gaza-Streifen steuerte, in der es darum ging wieviel Kalorien der durchschnittliche Bürger in Gaza pro Tag benötigt, um nicht zu verhungern (siehe auch den Bericht vom 15.11.2012 "Von langer Hand vorbereiteter Krieg in Gaza").
2. Das internationale Recht erlaubt ausdrücklich einen bewaffneten Widerstand für Völker, "die gegen Kolonialherrschaft und fremde Besatzung sowie gegen rassistische Regimes in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kämpfen", gem. 1. Zusatzprotokoll der 4. Genfer Konvention, Art. 1 Absatz 4.
Fremde Besatzung, Kolonialherrschaft und ja, sogar rassistisches Regime trifft auf die gegenwärtige Zusammensetzung der Regierung von Binyamin Netanyahu zu, die also gemäss internationalem Recht in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung mit Waffengewalt bekämpft werden dürfen.
Wenn also die Hamas gegen die israelische Unterdrückung, gegen die Kolonialherrschaft und gegen die fremde Besatzung kämpft oder gekämpft hat, dann war das in eindeutigem Einklang mit internationaler Rechtssprechung für Völker die unter einer Besatzung stehen. Aber, und das muss ebenfalls mit allem Nachdruck betont werden, diese Angriffe auf die israelische Besatzungsmacht dürfen nicht auf die zivile Bevölkerung Israels ausgedehnt werden. Wenn also Raketen aus dem Gaza Streifen gezielt solche sogenannten soft targets wie Dörfer, Städte etc. ins Visier nehmen oder Selbstmordanschläge auf unschuldige Menschen verübt werden, dann ist das mit dem "erlaubten" Rahmen des Widerstandes nicht zu vereinbaren.
Bleibt also die Frage zu klären, was die Menschen in Gaza sonst tun könnten um die Welt auf das von Israel auferzwängte Ghetto aufmerksam zu machen, und wie der bewaffnete Widerstand geführt werden kann.
Fakt bleibt, dass sich die Welt bisher trotz der angeblichen humanitären Verantwortung nicht grossartig für das Leid der Menschen im Gaza Streifen interessiert, und somit die Ghettoisierung durch Israel stillschweigend akzeptiert hat. Selbst die bevorstehende humanitäre Katastrophe vor welcher die UN schon lange warnt, nämlich dass der Gaza Streifen aufgrund der israelischen Blockade bald nicht mehr bewohnbar sein wird, interessiert so gut wie niemanden hier. Die Ironie an der ganzen Sache ist, dass dieses Interesse erst dann zurückkehrt, wenn Israel wieder einmal einen Krieg gegen die Bevölkerung des Gaza Streifens führt.
Auch der bewaffnete Widerstand gestaltet sich schon aus praktischen Gründen fast unmöglich aufgrund der Blockade und der Mauer. Es kann keinen klassischen Guerilla Kampf geben wie das der Fall bei Widerstandskämpfern unter einer Besatzung sonst ist. Was bleibt ist der Abschuss von eben jenen Raketen die grösstenteils für die Schäden in Israel verantwortlich sind. Das "Problem" mit diesen Raketen ist die Tatsache, dass es sich dabei um primitive fliegende Bomben handelt die ohne jegliche moderne Zielerfassung ausgestattet sind, und somit eben unkontrollierbar über die Mauer geschossen werden. Das ist die einzige Möglichkeit des bewaffneten Widerstandes. Muss es denn aber überhaupt einen solchen Widerstand geben? Gibt es keine andere Formen?
Natürlich gibt es solche Formen, diese wurden und werden aber von Israel brutal unterdrückt und im Keime bereits erstickt. Jeder der schon einmal an einer Freitagsdemonstration in der West Bank teilgenommen hat, einer unbewaffneten und friedlichen Demonstration gegen die Besatzung wohlgemerkt, wird bezeugen können wie Israel mit brutaler Härte gegen die Demonstranten vorgeht.
Nicht weniger brutal sind die Luftangriffe auf den Gaza Streifen. Mit Kampfjets, Drohnen und Kampfhubschraubern werden Bomben auf einen der dichtbesiedeltsten Gebiete der Welt abgeworfen, wohlwissend dass dabei entweder beabsichtigt oder unbeabsichtigt unschuldige Menschen verletzt oder getötet werden. Und trotz dieser Tatsachen verkündet die Mission der Europäischen Union in Israel heute, dass man "vorbehaltlose Solidarität mit den Menschen von Süd-Israel hat" oder dass "wahlloser Beschuss von Zivilisten nicht gerechtfertigt ist und gestoppt werden muss". Kein Wort des selben Mitgefühls für die Menschen in Gaza.
Weshalb kam es aber überhaupt zu dieser Eskalation der Gewalt?
Nun, in unseren Medien wird diese Frage nur zum Teil beantwortet. Als Grund wie die Entführung und anschliessende Ermordung der drei israelischen Jugendlichen angeführt, sowie der Mord aus Rache an einem palästinensischen Jungen. Das ist aber nur ein sehr kleiner Teil der Antwort.
Der weitaus grösste Teil der ungeheuerliche Ruf nach Vergeltung innerhalb grosser Teile der israelischen Bevölkerung und der rechtsgerichteten Regierung (siehe meine Berichte hier und hier). Insbesondere die Siedlerbewegung wollte einen endgültigen Schlag gegen die Hamas sehen, die ohne jegliche Beweise zu liefern als Drahtzieher der Morde an den drei Jugendlichen in der West Bank beschuldigt wird. Die Antwort von Ministerpräsident Netanyahu auf diesen Ruf nach Rache fiel in ihren Augen zu mild aus. Erst als sich auch politisch die Situation für Netanyahu verschärfte indem sein Bündnispartner, der rechtsgerichtete (nicht Wenige würden rechtsradikale sagen) Avigdor Liberman der Partei Jisrael Beitenu (Unser Haus Israel) dieses Bündnis mit Netanyahu`s Likud-Partei aufkündigte und sich somit als direkter Herausforderer für Binyamin Netanyahu für die nächsten Wahlen präsentierte, sah sich der Ministerpräsident gezwungen zu reagieren. Da ihn Liberman der Feigheit beschuldigte und gegen seine Politik massiv losdonnerte, liess Netanyahu seinen Sicherheitsrat zusammenkommen und entschied dabei die "phasenweise Eskalation" mit der Hamas.
Nur damit Netanyahu nicht als Schwächling vor dem israelischen Volk dasteht und potentielle Wähler seiner Likud nicht an Liberman`s Partei verliert (bei den letzten Wahlen war es ja ein Block mit Likud-Beitenu) und somit bei einem Zusammenbruch seiner Regierungskoalition vermutlich keine, oder zumindest weniger Chancen mehr auf eine Wiederwahl hätte, ordnete er eine "phasenweise Eskalation" an. Dass es Netanyahu aber von Anfang an des Dramas um die drei entführten Jugendlichen nur um die Hamas bzw. der Einheitsregierung mit der Fatah ging, wird in unseren Medien überhaupt nicht erwähnt. Demzufolge auch nicht, dass die jetzige Eskalation nur eine logische und tödliche Konsequenz daraus ist. Die Hamas hat von Anfang an gesagt, dass sie mit der Entführung nichts zu tun hat. Sie hat auch noch während den sporadischen Angriffen der israelischen Air Force der letzten Tage verlauten lassen, dass man "nicht an einer Konfrontation mit Israel interessiert ist". Als dann aber 9 hochrangige Hamas-Aktivisten durch israelische Drohnenangriffe ums Leben kamen, reagierte man mit einer grossen Barrage von Raketen auf Ziele in Israel. Das war genau das was Netanyahu noch zur Rechtfertigung gebraucht hatte.
Die Einberufung von 1500 Soldaten aus der Reserve zeigt aber, dass das Interesse auf eine grossangelegte Kampagne gering ist, verglichen mit der Einberufung von über 50`000 Reservisten im Dezember 2008. Vieles wird davon abhängen wie die Welt reagieren wird, wie hoch die Opferzahlen in Gaza sein werden und wie viele Raketen aus dem Gaza Streifen in Israel landen, und vor allem WO sie landen werden. Es kann aber keine Rede davon sein dass es sich um eine Verteidigung Israel`s handelt, wenn doch genau diese Ausweitung der Gewaltspirale von allen Seiten gefordert wurde. Aber die Büchse der Pandora wurde geöffnet, und niemand wird behaupten können die Situation im Griff zu haben oder die Eskalation "phasenweise" kontrollieren zu können.
*UPDATE* Die Situation hat sich dramatisch verschärft. Nach dem massiven Bombardement des Gaza Streifens über den heutigen Tag hinaus, hat die Hamas ihre gefürchteten Fajr Raketen aus dem Arsenal geholt (wie bereits im November 2012) und Ziele in Jerusalem und sogar Tel Aviv angegriffen. Daraufhin erliess Binyamin Netanyahu den Befehl, weitere 40`000 Soldaten aus der Reserve zu mobilisieren und bereitet nun einen Bodenkrieg vor. Das könnte eine Wiederholung, wenn nicht sogar eine Verschlimmerung, des brutalen Krieges vom Dezember 2008/Januar 2009 werden. Was der heutige Tag aber definitiv bewiesen hat sind zwei Dinge:
1: die israelischen Multi-Milliarden teure Raketenschirme wie Arrow, David`s Sling oder Iron Dome, die massiv vom amerikanischen Steuerzahler subventioniert werden, haben der israelischen Bevölkerung keine Sicherheit gebracht.
2: genau wie ich es oben beschrieben habe, ist nun der Fall eingetreten dass ein Krieg nicht kontrollierbar ist, auch wenn er nur "phasenweise" geplant war.
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